Backsteingotik
Europäische Route der Backsteingotik
Gotik ist der Epochen- und Stilbegriff für das Form- und Lebensgefühl, das zwischen 1150 und 1550 alle Bereiche des öffentlichen und privaten Bewusstseins durchdrang. Das geistige Leben war geprägt von einer symbolreichen, christlichen Gedankenwelt, die Sachkultur von Eleganz und Verfeinerung, Technik und Baukultur von hoher Raffinesse und fast modern anmutender Effizienz.
Die Stadt Brandenburg an der Havel hat dem aufmerksamen Besucher eine außerordentliche Fülle gotischer Baukunst zu bieten. Weder durch Feuer und Krieg, noch durch übermäßigen Reichtum tiefgreifend zerstört, hat sich hier ein ganzer Kosmos mittelalterlicher Architektur erhalten. Hier lassen sich nicht nur alle Stilstufen der märkischen Gotik studieren, hier findet man auch Beispiele fast aller kirchlichen und profanen Bauaufgaben.
Die Brandenburg, eine slawische Festung, lag auf einer Insel inmitten der Havel und wurde schon 928/29 erstmals genannt. Nach 1150/57 entstanden zwei nach damaligem Verständnis hochmoderne Städte nach deutschen Rechts: Die Altstadt und die Neustadt Brandenburg, die sich wegen ihrer guten Verkehrslage rasch entwickelten und jahrhundertelang die bedeutendsten Städte der Mark Brandenburg blieben. Anspruch und Reichtum fanden zu jeder Epoche ihren baulichen Ausdruck. Schon vor 1180 existierten in Brandenburg an der Havel nicht weniger als fünf Kirchen und eine stattliche Burg (von der sich überirdisch fast keine baulichen Überreste erhalten haben). Hier findet man die ältesten Steinbauten Nordostdeutschlands, z.B. die St. Gotthardtkirche, von der sich das massive Westwerk aus Feldsteinquadern bewahrt hat. Natursteine sind in der sandigen Niederungslandschaft Mangelware und so wurden bereits der Brandenburger Dom und die St. Nikolaikirche aus Backstein errichtet, die zu den frühesten Backsteinbauten gehören. Beide Bauten zeigen monumentale romanische Formen einer Zeit, da man in Frankreich schon länger mit gotischen Stilelementen und neuen Techniken experimentierte.
Die ersten frühgotischen Bauten gehen auf den Brandenburger Bischof Gernand (1221-1241) zurück, der nicht nur die Klausurgebäude des Domes, einschließlich achteckiger Kapelle (durch Grabung nachgewiesen) und die doppelgeschossige „Bunte Kapelle“ errichten ließ. Er war wohl auch der Bauherr der Marienkirche auf dem Marienberg (Harlunger Berg), ein weithin sichtbarer Zentralbau, der mit seinen vier Türmen in frühgotischen Formen die Stadt überragte (1722 abgerissen). Den religiösen Strömungen der Zeit folgend ließen sich in beiden Städten Bettelorden nieder, deren asketisches Glaubensideal sich in ihren Bauwerken ausdrückt. Die St. Johanniskirche, ab etwa 1250 in der Altstadt von den Franziskanern erbaut, war ein äußerst schlichter langgestreckter Backsteinsaal von erlesener Ausführung. Das Dominikanerkloster St. Pauli wurde um 1286 am Rande der Neustadt angelegt. Es ist eine der am vollständigsten erhaltenen Klosteranlagen der Bettelorden in Norddeutschland und in seiner schlichten Eleganz das geschlossenste hochgotische Bauensemble der Stadt.
Im 14. und 15. Jh. hatten die Städte ihre größte wirtschaftliche Prosperität erreicht. Das dominierende Bürgertum investierte seinen Reichtum in den Ausbau der großen Stadtpfarrkirchen. Gegen 1380 begann der Neubau der St. Katharinenkirche, der Pfarrkirche der Neustadt, durch den berühmten Stettiner Baumeister Heinrich Brunsberg. Er plante eine gewaltige Hallenkirche in den neuesten Formen der Spätgotik, die, außen mit reichstem Blendmaßwerk geschmückt, zu den herausragenden Objekten der Backsteingotik zählt. Die Altstadt folgte diesem Vorbild einige Jahrzehnte später mit dem Neubau ihrer Pfarrkirche St. Gotthardt. Als letztes erfuhr der Brandenburger Dom um die Mitte des 15. Jhs. seinen relativ schlichten gotischen Umbau. In allen Kirchen findet man noch beeindruckende Reste der mittelalterlichen Ausstattung: Kreuzigungsgruppen, Taufsteine, Altarretabel und Mobiliar.
Die bedeutendsten mittelalterlichen Profanbauten sind natürlich die Rathäuser der ehemals selbständigen Städte. Das Neustädtische Rathaus der Zeit um 1400 ist leider im Krieg zerstört worden. Dafür hat sich das Altstädtische Rathaus von 1468 mitseinerüppigen Turmfassade komplett erhalten. Die Reihe der mittelalterlichen Bürgerhäuser reicht vom sog. Ordonnanzhaus am Altstädtischen Markt, einem reichen Bürgerhaus der Zeit um 1300, das Ende des 15. Jhs. nochmals luxuriös umgebaut wurde, bis zum Haus Bäckerstraße 14, einem gotischen Wandständerbau von 1408, dem bislang ältesten Fachwerkhaus des Bundeslandes. In selten vollständigem Zustand kann man in Brandenburg an der Havel auch die mittelalterliche Stadtbefestigung erleben. Die beiden Stadtmauerringe stehen zu mehr als der Hälfte ihrer ursprünglichen Länge aufrecht. Dieses größte städtische Bauwerk des Mittelalters wurde ab etwa 1300 in Backstein neu errichtet und hat in der Neuzeit keine wehrtechnische Anpassung erfahren. Insgesamt vier erhaltene Tortürme aus dem 14. und 15. Jh. vermitteln einen Eindruck von der Stärke der Verteidigungsanlagen bei gleichzeitigem Repräsentationsanspruch der Städte.